Pressespiegel
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Psychologie
ANKER IM SEELENMORAST
Neurolinguistisches Programmieren, eine aus den USA importierte Mixtur der wirkungsvollsten
psychologischen Behandlungsformen, ist zur Modetherapie der neunziger Jahre avanciert - mit verblüffendem Erfolg. Selbst deutsche Großkonzerne lassen ihre Manager in NLP-Kursen schulen.
O. V.
Ariane, 29, will gerade ausführlich
beschreiben, wie ihr mangelndes
Selbstbewußtsein sie quält, da unterbricht der Therapeut die junge Frau:
"Denken Sie bitte mal an eine Situation,
in der Sie in einer exzellenten Verfassung waren."
Die Sachbearbeiterin saß eben noch
mit eingefallenen Schultern auf ihrem
Stuhl, nun richtet sie sich ein wenig auf.
Ihre Atmung wird kräftiger, ihr Gesicht
bekommt Farbe, und sie schildert, wie
ihr Chef sie für einen gelungenen Geschäftsbrief gelobt hat. Im suggestiven
Tonfall eines Hypnotiseurs entlockt der
Therapeut Ariane Details: wie sie sich
danach gefühlt, was sie gesehen, gehört
und gerochen hat.
Bei jeder Antwort geht es der Patientin sichtlich ein bißchen besser. Am Ende des knapp halbstündigen Dialogs
wiederholt der Therapeut ein Fingerschnipsen, das die Patientin im Hochgefühl der Erinnerung unbewußt ausgeführt hatte: "Können Sie das noch einmal machen?" Ariane folgt der Anweisung - und ist im Nu wieder bestens aufgelegt.
Künftig könne sie, so ihr Gesprächspartner, das bessere Selbstwertgefühl jederzeit per Fingerschnipsen abrufen.
Was die Frau da gelernt hat, heißt
"Moment of Excellence"-Technik und
ist eine von vielen aus dem Methodenarsenal des Neurolinguistischen Programnierens - kurz NLP.
Diese facettenreiche Mixtur aus Hypno- und Verhaltenstherapie, aus Autosuggestion, Gestalt und Familientherapie ist der wachstumsstärkste der rund 500 Therapietypen, unter denen seelenkranke Deutsche derzeit wählen können.
Seit NLP vor zwölf Jahren aus den
USA in die Bundesrepublik importiert
wurde, ließen sich etwa 5000 Bundesbürger zu Fachtherapeuten ausbilden; in
den Psychoabteilungen von Buchläden stehen zahlreiche NLP-Titel wie "Der
Zauberlehrling" oder "Triffst Du 'nen
Frosch unterwegs"; 200000 Klienten
ließen sich mit der Mischtherapie behandeln, die verspricht, in einer Art
Crash-Kurs die Psyche zu befreien.
NLP-Anhänger führen den Boom auf
das breite Anwendungsspektrum und
den vielfältigen Nutzen zurück. Die
Therapien
- sind erheblich kürzer als herkömmliche Behandlungen und
erfordern oft nur eine Sitzung,
- sind als Managertraining oder
Verkäuferschulung geeignet
und kommen deswegen schon
bei Esso, Rewe, BMW, Opel,
Adidas und Bayer zum Einsatz,
- verbessern die Kommunikaton sowohl in verfahrenen beruflichen Situationen als auch
bei Partnerproblemen,
- eignen sich für psychisch
Kranke und erfolgsorientierte
Gesunde gleichermaßen.
Das von ihren Anwendern als
Wunderheilung im Expreßtempo
gepriesene Verfahren ist das Innovativste und Eleganteste, was
an Psychotraining derzeit angeboten wird. Wenngleich im therapeutischen Kontext entwickelt,
sei NLP nicht auf diesen beschränkt, sondern könne nahezu
überall eingesetzt werden, wo
Menschen mit sich oder anderen
Probleme haben.
Solch umfassende Erfolgsversprechen machten Neurolinguistisches Programmieren zum
Renner. Das kantige Kürzel NLP steht, so der Kölner Dozent und
Psychotherapeut Jo Schnorrenberg, "auf dem Fortbildungs-Supermarkt im vordersten Regal".
"Neuro" bezieht sich auf die Annahme, daß alle inneren Zustände, von Euphorie bis Depression, auf Nervenreizen
und -reaktionen beruhen. "Linguistisch" verweist darauf, daß sie durch
Sprache verändert werden können. Und
"Programmieren" betont den Anspruch, eingeschliffene Denkmuster
("Ich kann nicht...", "ich bin zu dumm, zu häßlich, zu dick, zu ungebildet") verändern zu können, und zwar schnell und dauerhaft.
"NLP kann mehr als frühere Systeme
und ist aus dem Trainingsbereich nicht
mehr wegzudenken", meint der Limburger Kommunikationstrainer Rudolf
Schnappauf. "Es liefert die Möglichkeit,
einen erwünschten, positiven Zustand
häufiger, schneller, leichter zu erreichen
und länger aufrechtzuerhalten."
Jeder 20. Deutsche, so schätzen Experten, benötigt zumindest eine ambulante psychologische Behandlung und
würde ein entsprechendes Angebot
wahrnehmen. Oft schrecken aber die
Kosten - Krankenkassen bezahlen nur
jede 500. Behandlung - und die Dauer
solcher Therapien. "Beim NLP",
schwärmt hingegen eine Patientin, "gibt
es nicht die üblichen Jammerstunden.
Ich habe sehr schnell gelernt, in die Zukunft zu schauen und Verantwortung zu übernehmen."
Einer der vielen NLP-Lehrsätze lautet, daß Menschen bereits über alle Fähigkeiten verfügen, die sie für angestrebte Veränderungen brauchen - sie
setzen sie nur nicht immer ein. Dabei
könnten sie auch ohne das sonst übliche
Baggern im Seelenmorast Phobien,
Lernstörungen, Rauchen, Trinken, Eßsucht, Schlaflosigkeit oder
Prüfungsängste überwinden.
Selbstbewußtes Auftreten,
Erfolg im Job und in der Liebe, und dies nach einem einzigen NLP-Durchgang - das
klingt vielversprechend. Entsprechend skeptisch reagieren
klassisch ausgebildete Psychologen.
Nicolas Hoffmann, Leiter
des Berliner Ausbildungsinstituts für Verhaltenstherapie,
dämpft überzogene Erwartungen: "NLP offeriert zwar ein
paar ganz interessante Ansätze, die aber eher Gesunden als
schwer psychisch gestörten
Menschen entscheidend helfen
könnten." Ihm fehlen Wirksamkeitsuntersuchungen, die
"über Anekdoten hinausgehen". Wer nichts gelernt habe
außer NLP, ergänzt der Berner Therapie-Wirkungsforscher Klaus Grawe, "kann nicht als seriöser Therapeut betrachtet werden".
NLP-Therapeuten verfolgen die Leidensgeschichten ihrer Patienten nicht
bis in die Kindertage zurück, sondern
suchen nach positiven Erlebnissen. Die
"innere Landkarte" soll verändert werden, die Vorstellung also, die jemand
von der Welt hat.
Eine der Techniken hierfür ist das "Reframing": Klienten sollen erkennen, daß in ihren Krisen auch Chancen verborgen liegen, aus Leidenden sollen Handelnde werden, aus ängstlichen Pessimisten mutige Optimisten.
Christel Becker-Kolle, 40, die 19
Jahre lang an einer Autofahrphobie
litt, hat es erlebt: "Ich habe zwei Analytiker verschlissen, 150 Stunden à 140 Mark auf der Couch verbracht und
mich jahrelang nur damit beschäftigt,
wie schrecklich meine Kindheit war."
Der Erfolg dieser Prozedur war allerdings gleich Null.
Eine Dreiviertelstunde NLP dagegen
brachte den Durchbruch: "Plötzlich
konnte ich die positive Seite, die
Schutzfunktion meiner Angst würdigen. Mir wurde klar, daß ich in meinem Leben noch nie einen Unfall hatte." Jetzt bewegt die Betriebswirtin
souverän einen Wagen mit mehr als 100 PS über die Straßen.
Für NLP-Therapeuten sind solche Heilungen der Beweis: Hinter jedem
Verhalten, jeder Angst, so unverständlich und bizarr sie Außenstehenden
"Wir glauben, daß
alle Kommunikation
Hypnose ist"
auch erscheinen mögen, steckt eine positive Absicht. Sie auszuloten schafft Zugang zu bislang verschütteten Reserven des Klienten und befreit ihn.
"Ungeheuer versöhnlich, weil es den
Menschen aus dem Konflikt mit seinem Problem herausholt", findet Therapeut Schnorrenberg diesen Aspekt
des NLP. Doch er sieht auch "die Illusion totaler Machbarkeit", die Umdeutung von existentiellen Leiderfahrungen in "eine Art heiterer Plausibilität".
Diese Leichtigkeit ist Psychologen
alter Schule suspekt. Von den beiden
Begründern des NLP, den Amerikanern Richard Bandler und John Grinder, wurde sie indes bewußt propagiert. Sie versprechen "Kontrolle über
das, was in Ihrem Gehirn tatsächlich passiert" und die "bedarfsgerechtere
Nutzung" des Gehims - dieses Ziel wollen sie auf kürzestem Wege erreichen.
Anfang der siebziger Jahre begannen
der Informatikstudent Bandler und der
Linguistikprofessor Grinder, die Arbeitsweise der drei angesehenen
US-Therapeuten Fritz Perls, Virginia Satir
und Milton Erickson zu analysieren.
Die einzelnen Elemente ihres Erfolgs
waren den Seelenforschem oft selbst
nicht bewußt. Bandler und Grinder
verbanden sie zum Neurolinguistischen
Programm.
"Wir können eine Phobie in fünf Minuten kurieren" - mit diesem flotten
Spruch verkauften sie bald ihr NLP als Kurzzeittherapie. Über Nacht wurde
das Duo zu Shooting-Stars der amerikanischen Psychoszene, ihre hemdsärmelige Effizienz setzte sich rasch auf dem Psychomarkt durch.
NLP-Patienten müssen eine angsterregende Situation nicht noch einmal
durchleben, sondern sehen sie gleichsam von außen, als Zuschauer - "dissoziiert" lautet der Fachbegriff. Das
geschieht mittels Hypnose: Traumatische Szenen werden distanziert wie ein
Film betrachtet, und so erfolgt eine leichtere Lösung aus psychischen Leiden und Verkrustungen.
Der Begriff Hypnose wird von den
Amerikanern allerdings verwirrend
weit gefaßt. "Wir glauben, daß alle
Kommunikation Hypnose ist", sagt
Grinder. "Sie ist Ziel jeder Unterhaltung. Wenn jemand zum Beispiel etwas über seinen Urlaub erzählt, so will
er seinen Zuhörer in einen bestimmten
Zustand versetzen, eine Ferienstimmung beschwören."
Außerdem beobachten NLP-Therapeuten systematisch die körperlichen
Zustände ("Physiologien") ihrer Klienten. Als wichtigste Merkmale gelten
ihnen Atmung, Gesichtsfarbe, Muskelspannung, Haltung, Blickrichtung
(siehe Grafik Seite 151) sowie Tonlage
und Lautstärke der Stimme.
"Wer schlecht atmet oder verspannt
sitzt, kann keine Ziele formulieren,
Ideen kreieren oder konstruktive Dialoge führen", erläutert der Hamburger
Psychologe Thies Stahl, der NLP in
Deutschland popularisierte. Er leitet
dazu an, sich das positive Ziel einer
Problemsituation möglichst sinnlich
und konkret vor Augen zu führen. "In
diesem Zustand entwickelt der Klient
meist schon Ideen, wie er Kräfte zum
Erreichen seines Zieles mobilisieren
kann."
Besonders wichtig ist für "NLPisten"
(Therapeuten-Jargon), ob ihr Gesprächspartner Eindrücke eher bildlich
(visuell), nach dem Gehörsinn (auditiv), gefühlsmäßig (kinästhetisch) oder
nach dem Geruchssinn (olfaktorisch) verarbeitet.
Die Sprache verrät es: Visuelle Typen "sehen, worauf es ankommt",
oder können sich "ein Bild machen".
Für auditiv Orientierte "klingt" etwas
gut oder "es fällt der Groschen". Kinästhetiker haben "ein Gespür" oder
bekommen es "in den Griff". Olfaktorische Typen sprechen vom "richtigen
Riecher" oder einem "unangenehmen Beigeschmack". Die Kenntnis dieser
Typologie verbessert den Draht ("Rapport") des Therapeuten zu seinem Klienten.
"Einem kinästhetischen Typ kann es
auf die Nerven gehen, immer wieder
sagen zu müssen, daß er den Partner
liebt", sagt Alexa Mohl, Managementtrainerin in Hannover. "Ein auditiver
Typ kann enttäuscht sein, wenn der Partner kein Vertrauen in seine Worte
hat und ständig sichtbare Liebesbeweise verlangt." Im NLP-Training sollen Menschen lernen, zu welchem Typ sie gehören und wie sie sich auf die Wellenlänge anderer einstellen können.
Auch sogenannte Anker, das sind
Auslöser für erwünschte Reaktionen,
spielen bei den Behandlungen eine
wichtige Rolle. Melodien wecken bestimmte Emotionen, das Bild eines
Klassenzimmers erinnert an schulische
Qualen, ein bestimmter Geruch an die
Kindheit. "Alles, was uns etwas bedeutet, ist ein Anker", sagt Stahl.
Geschickt eingesetzt, wie das Fingerschnipsen im Fall von Ariane, hält NLP-Guru Bandler das Ankern für "eine der
besten heimlichen Techniken, die "Therapeuten oder Kommunikatoren anwenden können". Hans Metzger, der für eine große deutsche Bank Fortbildungsseminare leitet, spricht von einem "feinen Besteckkasten" in Sachen Kommunikationsschulung.
Die Methoden laden allerdings auch
zu Mißbrauch ein. "NLP macht die verdeckte Beeinflussung anderer zu deren
Nachteil möglich", räumt Trainerin
Mohl ein. Bandler und Grinder, so ihr
Vorwurf, "berücksichtigen nicht, daß
sie ihr Wissen den Mitgliedern einer
Welt vermitteln, in der Macht ungleich
verteilt ist und Zugang zu Wissen nicht
allen gleichermaßen offensteht".
Der Bielefelder Psychologe Wilhelm
Nolting bringt die Skepsis auf den
Punkt: "Lernen mit NLP", sagt er, sei
"hoch wirksam, setzt aber einen verantwortungsvollen Umgang mit der Technik voraus". Er vergleicht die Wunderwaffe mit einem Messer: "Man kann damit exzellent Brot schneiden, aber auch jemanden schwer verletzen."
Quelle: DER SPIEGEL 47/1993, S. 150-58.