Pressespiegel
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Helden auf der Couch
Filmemachen wie im Traum - ein Berliner Seminar für Drehbuchautoren nutzt die Techniken der Psychoanalyse
Simone Mahrenholz
Herr Hansa, der vitale Konzernchef, geht ein paar schnelle Schritte nach rechts, dann
bricht er plötzlich zusammen. Eben noch hatte er höhnisch über den jungen Rivalen
gelacht. Nun murmelt er hochroten Kopfes etwas von Herzrasen. Die 30 angehenden
Drehbuchautoren im Zuschauerraum starren betroffen auf die Bühne: Der Schauspieler
des Herrn Hansa scheint inmitten von vier Kollegen wirklich von einer anonymen Macht
zu Boden gezerrt zu werden. Ist hier tatsächlich das "Wissen des Feldes" im Spiel, von
dem die Leiterin des "Lifescript"-Seminars Angelika Niermann eben sprach? Die
ausgebildete Hypno- und Systemische Familientherapeutin praktiziert gerade
"Systemische Familienaufstellung" für Drehbuchautoren.
Die intensive Suche nach Wegen zum guten Drehbuch ist bei den Therapieformen
angelangt. Dies zeigt das Programm des viertägigen Script-Forums, der jährlichen
Fachmesse für Drehbuch und Stoffentwicklung, ausgerichtet von der Berliner Master
School Drehbuch. Hypnosetechniken, selbstinduzierte Trance-Zustände, das
berühmt-berüchtigte "NLP" (Neuro-Linguistic Programming), tiefenpsychologische
Film-Analysen und eben Systemische Familienaufstellung tauchen in den
Veranstaltungs-Ankündigungen auf. Kein Wunder, Therapieformen haben sich über das
"Coaching" in der Wirtschaft schon seit längerem aus dem stigmatisierten
Krankheitsbereich in gesellschaftlich salonfähige Regionen hinüberbewegt. Im
Business wie in der Kunst - und das Drehbuch ist ein prototypischer Schnittpunkt beider
- geht es zunehmend um das optimierte Anzapfen bislang ungenutzter Ressourcen.
Werden nun also auch die Träume und das Unbewusste kapitalisiert? So negativ sehen
es allenfalls Kulturpessimisten. Dem von Schreibblockaden geplagten Kreativen ist jede
Anregung ein potenziell rettender Strohhalm. "Allnächtlich produziert Ihr Unbewusstes
drei, vier glänzende Filmplots - im Traum", beginnt Jurgen Wolff sein Seminar über
"Hypnotic Scriptwriting - Schreiben für die rechte Gehirnhälfte". Wolff, erfolgreicher
amerikanischer Drehbuchautor deutscher Abstammung mit Wohnsitz in London, bietet
seinem Auditorium ein Arsenal von Techniken an, mit deren Hilfe man sich des
kreativen Unbewussten bedienen kann. Von der Hypnose-nahen Tiefenentspannung
über Elemente des "NLP", in dem hemmende Instanzen wie der berüchtigte "innere
Kritiker" umgepolt werden, bis hin zu gelenkten Tagtraumreisen und Rollenspielen
reicht seine Palette. Ziel ist, für die Stoffentwicklung oder die Lösung von
Schreibproblemen dem Gehirn andere Informationen zu verschaffen, als sie das
Bewusstsein bietet: visuelle, emotionelle, tiefen-erinnerte oder kollektive Inhalte.
Wahlverwandtschaften
Wolff beginnt viele Übungen mit einer körperlichen Entspannungsphase, auf die dann
etwa die Aufforderung folgt, sich eine Auseinandersetzung zweier Drehbuchfiguren
vorzustellen - oder sie gleich selbst im imaginierten Rollenspiel auszuagieren. Das
Denken in Bildern - oder im spielerischen Ausagieren - provoziert oft eine Flut stimmiger
Details, die ohne Zwang und Kontrolle des Denkens entstanden sind. "Die meisten
Strukturprobleme sind eigentlich Probleme der Figuren", so Wolff, der sein Publikum
immer wieder anregt, sich beim Schreiben tiefer in die individuelle Welt der Figuren
hineinzudenken - mit all jenen Details aus der Familiengeschichte, die im Film nie
auftauchen, aber dennoch die Charaktere bestimmen.
Wolff, der sein Geschäft in Hollywood als Drehbuchlektor begann, kommt zur gleichen
Diagnose wie Autor und Schauspieler Michael Seyfried, der zusammen mit Niermann
das "Life Script"-Seminar leitet: Nicht mehr an Strukturmängeln kranken heutige
Drehbücher. Seitdem jeder angehende Autor die Drehbuchratgeber nach dem Muster
Syd Fields und Linda Segers kennt, scheint die Drei-Akt-Struktur eiserne Regel. Jeder
Plot-Point und jeder strukturelle Höhepunkt sitzen wie festgenagelt auf der
vorgeschriebenen Seite des Scripts. Jeder Protagonist hat einen Antagonisten, und
auch das Layout der Vorlage ist makellos. Stattdessen fehlt es nun häufig an Passion,
an Herz.
Alter, Beruf und zwei Adjektive
Auch in der systemischen "Life-Script"-Arbeit von Niermann und Seyfried stehen die
Figuren im Mittelpunkt. Autor Jörg ist mit einem Drehbuch und Fragen gekommen und
stellt seine fünf Hauptfiguren nach Anweisung der Familientherapeutin Niermann auf die
Bühne: Er soll die Schauspieler räumlich so ausrichten, wie sie seiner Ansicht nach
zueinander stehen. Jeder Schauspieler weiß von seiner Figur nur Alter, Beruf und ein,
zwei Adjektive. Sekretärin Maria etwa kämpft für ihren Chef, Herrn Hansa, "wie eine
Löwin", die junge Nachlassverwalterin Frederike ist "ehrgeizig und kurz vor einer
Karriere". Als alle auf ihren Plätzen stehen, äußern die Schauspieler zunächst reihum
ihre Empfindungen. Schon hier Verblüffendes: Frederike, zwischen zwei jungen Männern
stehend, empfindet Martin als "Pflicht", Markus hingegen als "Lust". Herr Hansa "freut
sich" auf die Rivalität mit dem "jungen Cleverle" Markus.
Autor Jörg schreibt fiebrig mit, stehen all diese Details doch in geheimnisvoller
Verbindung zum unbekannten Drehbuch. Drei Mal werden sich die Figuren wie in
Spielzügen auf einem Schachbrett bewegen, danach haben sich Konstellationen und
Verhältnisse völlig gewandelt: nach einer eigenen Logik, die, so Niermann,
ausschließlich aus der ersten Aufstellung stammt. Am Ende erzählt Autor Jörg den
ursprünglichen Plot. Nach der folgenden gemeinsamen Analyse, die von lebhaften
Fragen der Seminarteilnehmer vorangetrieben wird, überlegt der Autor verblüfft, ob der
Film nicht eigentlich eine ganz andere Hauptfigur und einen anderen Antagonisten hat.
All dies geschieht in kaum einer Stunde aus der "Weisheit des Feldes" heraus, die, so
Angelika Niermann, für reale wie für fiktive Figuren gilt.
Zwar hat der Autor auf Grund der vielen Improvisationen "seiner" Figuren nun glänzende
Augen. Doch im Auditorium entstehen eine Fülle skeptischer Fragen. Hätten andere
Schauspieler nicht andere Prozesse erbracht? Welche Unterschiede hat diese Arbeit zur
therapeutischen Familienaufstellung, die am Ende auf ein "heilendes Bild" hin
ausgerichtet ist? Besonders begeistert wirken die fünf jungen Schauspieler, die von
ihren eigenen Entwicklungen auf der Bühne genau so überrascht worden sind wie die
Zuschauer.
Was Triebe wissen
Generell scheint das neue Paradigma in der Drehbucharbeit darin zu liegen, jenes
Wissen in sich anzuzapfen, das sich einer über-individuellen Quelle in uns bedient:
jenseits des rationalen Bewusstseins. Hier sind Gefühle, Triebe und frappierende
Schnelligkeit im Spiel. Bei allem Verdacht der Rationalisierung und Ausbeutung dieser
letzten menschlichen noch unverfügten Bastionen birgt der Einzug dieser Elemente in
die Arbeitswelt immerhin eine gute Nachricht: Er bringt enormes Vergnügen.
Scriptforum-Messe noch bis heute in der Berliner Urania, Info:
www.scriptforum.de. Heute 10 Uhr: "Systemische Drehbuchaufstellungen", Workshop mit Kristine Erb. - Info Niermann/Seyfried: www.livescript.de. - Info Jürgen Wolff: www.brainstormnet.com.
Quelle: Der Tagesspiegel, 7. Oktober 2001, S. 26.