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Herz im Kopf Akazien Verlag   
 
Lesezeichen [ QR-Code ] Di 3 Dez 2024 17:47:04


 Pressespiegel
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Die Diktatur der Optimisten

"Du schaffst es!", "Gib niemals auf!", "Sorge dich nicht - lebe!" Die Entertainer der Erfolgsgesellschaft locken Verzagte, Berufsmüde und Karrieresüchtige zu Tausenden auf ihre Motivationskongresse. Begegnungen mit den Predigern der Erschöpfungslehre / Von Christian Schüle

Und dann sagt er ihnen, sie seien in den Hühnerstall hineingeboren. Zu Hühnern habe man sie erzogen. Und er sagt ihnen, sie seien Adler, und sie schweigen und lauschen. Und der Hühnerstall, das sagt er ihnen nicht, ist die Gesellschaft, und Hühner sind schwach. Und die allermeisten Menschen seien Hühner, und du, sagt er ihnen, du schaffst alles, wenn du nur willst, DU, sagt er, DU kannst Adler werden! Und 1100 Adler jubeln. Der Redner heißt Jürgen Höller. Es ist Samstagnachmittag. Draußen regnet es.
    Congress Centrum Hamburg, neun Uhr. Unaufhörlich fahren Männer mit dunklem Dreiteiler und gestreiften Krawatten, Coat, Mantel, Ledertasche die erste Rolltreppe hinauf, dazwischen Frauen mit Schlangenlederschuhen und Pumps, Kleidern, Lederhosen, Jeans. Neben der Garderobe - Erste erkennen sich wieder, man scherzt - ein lang gezogener Stand: Bücher, Videos und Kassetten von Brian Tracy, Ulrich Strunz, Jürgen Höller und Napoleon Hill; Die Macht der Motivation; das Erfolgspaket Sprenge Deine Grenzen!; Denke nach und werde reich: die 13 Erfolgsgesetze. Drei viertel zehn, die zweite Rolltreppe. Vor Saal 2 hat die Deutsche Post einen gelben Tisch. "Wir sind überall dabei", sagt die Betreuerin. 80 Postkunden seien hier, im Seminar, von der Post eingeladen, zu vergünstigten Konditionen. Schräg gegenüber: der weißwandige Stand des Deutschen Herold, Versicherungsgruppe der Deutschen Bank. "Die soziale Kompetenz", sagt der Bereichsdirektor Hamburg und Umgebung, "wird immer bedeutender und in den Unternehmen keineswegs richtig gelebt." Fünf vor zehn. Die Tür öffnet sich. 1100 Menschen strömen in Saal 2. Plötzlich - ein Schrei: "I got the power!" Volume: erheblich. Der Groove kommt unweigerlich. Einige wippen schon und schwingen. Dann sind die Reihen dicht. Saal 2 ist voll. Der Organisator von Live Power Seminare tritt auf die Bühne, hinter ihm zwei beträchtliche Videoleinwände, die ihn überlebensgroß projizieren. Er kündigt den teuersten Motivationstrainer Europas an. "Sage und schreibe 45 000 Mark Tagesgage!" Er kündigt den Vollblutunternehmer und Vater zweier Söhne an. "20 Millionen Mark Jahresumsatz!" Er kündigt den Mann an, der vor zwei Jahren die Dortmunder Westfalenhalle füllte. "14 000 Leute!" Und dann stürmt dieser Mann neben der Bühne ins Parkett. Grün-gelber Laser. Theme from Mission Impossible. Er lacht und klatscht schnell. Er fasst Hände und Schultern. Zehn Uhr fünf, der "Termin mit deinem Schicksal" beginnt. 1100 Adler wissen nicht mehr, dass sie Adler sind. Einer muss es ihnen wieder sagen. Das ist der Beruf von Jürgen Höller. Seit 1991 hat er einer Million Menschen Kick-offs, Push-ups und positive thinking beschert; zwei Jahre im Voraus, heißt es, sei er ausgebucht. Jürgen Höller, sagt man, sei der Star, der Papst, der "Magier" unter den Motivationstrainern Deutschlands, und an diesem Samstag, als es unaufhörlich regnet, jubeln ihm 1100 Menschen zu, die spüren, dass alles, alles möglich ist.
    Draußen ist schwarze Nacht, und in den sonnenhellen Raum kommen Männer Mitte 30 bis 50 mit passgenauen Anzügen, blauen Hemden, roten Krawatten, und es kommen Frauen Mitte 20 bis 50 in Kostümen, hochhackig und auch casual. 400 Gäste, kein Platz bleibt frei. Cher singt den Choop-Song. München, Stadtmitte, ein Dienstag. Der Präsentator des Seminars spricht vom "Geheimnis der Motivation" und davon, dass weder der Markt noch der Partner, noch das System, nein, meine Damen und Herren, dass nur der Einzelne verantwortlich sei für sein Schicksal. Er spricht über die "Freisetzung von Mitarbeiterpotenzial", über die "Nutzung individueller Ressourcen". Ein Defizit. Neue Anforderungen. Risiken. Chancen! Ein durchaus dynamischer Handschlag, und auf die Bühne steppt Jörg Löhr, Deutschlands "Motivationstrainer der Jahre 1998 und 2000". Ein groß gewachsener, körperpräsenter Mann. Löhr war Leistungssportler, 94facher Handball-Nationalspieler, Europacup-Sieger, Mannschaftsführer, besaß ein Fitnessstudio in Augsburg und noch eines und dann eine Unternehmensberatung, und nun ist er "Erfolgstrainer". Zusatzausbildungen wie NLP, wovon gleich die Rede sein wird, hat er absolviert. Hunderte Seminare hat er selbst besucht, Robbins, Tracy, hunderte Bücher gelesen und nicht weniger Kassetten gehört. Selten sieht man ihn nicht strahlen. Seine Augen sind wasserblau und sehr offen. Er zeigt Impulse als Zentimeter, zieht gern drei, vier grobe, allgemein verständliche Linien auf das Flipchart, "mit Spaß und Freude ist eine ganz andere Leistung möglich", sagt er dabei den Zuhörern, die lächeln, lachen, klatschen, staunen, die schon wenig später schreiben werden, dass sie dieser Abend verändert habe.
    Seit der postmodernen Erosion der "alten" Werte in den achtziger Jahren, die zugleich ein Plädoyer für Öffnung und die Erlaubnis zu Pluralismus und Wahlfreiheit war, rollt eine Welle durch Deutschland, die aus dem Amerika von 1870 kommt. Ihr Erfolg beruht darauf, dass sie dem Einzelnen eine schier endlose, von gesellschaftlicher Erziehung verschüttete Selbstmächtigkeit unterstellt. Eifernde Evangelisten in den Vereinigten Staaten machten den Anfang, es folgten, in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts, Dale Carnegie, Joseph Murphy, Norman Peale und Erhard Freitag, in den Achtzigern und Neunzigern Anthony Robbins, Brian Tracy und Tom Peters. In Deutschland will Anfang der siebziger Jahre die Münchnerin Vera F. Birkenbihl, nach zehn Jahren heimgekehrt aus Amerika, den "psychologischen Supermarkt" erfunden haben. Es gab Nikolaus Enkelmann, dann kamen der Holländer Emile Ratelband und seit fünf bis zehn Jahren jene, die manche Medien mit religiöser Konnotation "Päpste" und "Gurus" nennen: Ulrich Strunz, Bodo Schäfer, Jürgen Höller, Jörg Löhr. Die Welle führt, je nach Standpunkt des Betrachters, hilfreiche Visionen, fatale Ideologien oder schlicht zusammengeklaubte Kalenderweisheiten mit sich. Sie verspricht "Power", Frische und Aufbruch, fließt im Bett des "Positiven Denkens", speist sich hemmungslos aus dem Prinzip Individualismus und ergießt sich in das "Un- und Unterbewusste". Auf ihrem Weg hat sie Kinesiologie und Kybernetik mit sich gerissen und vor allem das "Neurolinguistische Programmieren (NLP)", einen psychologischen Mischmasch, der das Wort mit dem Denken, das Denken mit dem Willen gleichsetzt und mit der verbalen Suggestion das Gehirn neu formatieren, das Individuum auf die Schnelle verändern zu können glaubt. Die, die auf dieser Welle erfolgreich surfen, ziehen eine Menge Trittbrettfahrer hinterher. Man unterteilt sie in seriös und unseriös, kritisiert sie als Bluffer, Blender und Betrüger, lobt sie als Propheten, Priester, Profis. Es sind ehemalige Leistungssportler, Direktverkäufer, Unternehmensberater oder alles zusammen. Sie sind schrill und bedächtig, und ihre Zahl beläuft sich auf über 1000 in Deutschland, was geschätztes Minimum ist. Was sie verkaufen, sind Strategien zur Selbstvermarktung, zu Kreativität, Selbst- und Zukunftsmanagement, "Präsentainment", Rhetorik - die ewigen Gesetze des Erfolges. Sie bieten Tagesgroßveranstaltungen an, vertiefende Zwei-, Drei- und Viertageseminare, werden für die firmeneigene Fortbildung gebucht, als mentale Honorierung für verdienstvolle Außendienstmitarbeiter, und als Firmenpräsent zur Pflege der Kunden. Sie füllen Hallen und Hotels, lassen Führungskräfte über glühende Kohlen und durch Scherben gehen, mit dem Hals Eisenstangen verbiegen und Tsjakkaa! schreien. Sie empfehlen sich gegenseitig, nehmen sich unter Vertrag, treten als "Gaststars" auf und sind sich doch Konkurrenz. Ihre eigenen Firmen gehen Pleite, sie torkeln, fallen und stehen wieder auf. "Du musst immer einmal mehr aufstehen als hinfallen!", sagt Jürgen Höller. "Erfolg heißt, einmal mehr aufzustehen als hinzufallen", sagt Jörg Löhr. Das Zitat stammt von Churchill, und Dorothea Laupheimer, wie das Leben so spielt, ist gerade wieder aufgestanden.
    Lange habe sie in einem düsteren Loch gesteckt, sagt sie, persönliche Probleme, eine schwere Krankheit in der Familie, eins kam zum anderen, und so weiter, man kennt das ja, sie fühlte sich ausgelaugt, groggy, grau, wollte Spaß am Leben und fand ihn nicht mehr. Dann besuchte sie ein Seminar bei Jörg Löhr, und vieles, sagt sie, habe sich von da an zum Guten gewendet. Dorothea Laupheimer, Zahnärztin aus dem schwäbischen Laupheim, Kieferorthopädin und Praxischefin mit Zwölfstundentag, hat drei große Dreitageseminare mit Jörg Löhr absolviert, dazwischen dessen Bücher gelesen, verinnerlicht und verschenkt, sich Löhrs Hörkassetten gekauft, auf dass auch Autofahrten Sinn abwürfen, und sie habe, wie sie sagt, allmählich begriffen, "dass nur du selbst dich motivieren kannst". Löhr habe Antworten auf ihre Probleme. Löhr ziehe einen mit. Auf Löhr lässt sie nichts kommen. Jedes Mal nach den Seminaren, als sie nach Hause gekommen und wieder sie selbst gewesen sei, hätten ihre Kinder sie staunend dasselbe gefragt: "Mama, was hat denn der mit dir gemacht?" Sie lacht. Einer ständig kranken Mitarbeiterin, "einer sehr guten Fachkraft", habe sie irgendwann in einem langen Gespräch von Löhrs Thesen erzählt. "Danach war die keinen Tag mehr krank." Ihre Berufsgruppe, müsse man wissen, stehe ständig unter Stress, Wochenendarbeit, kaum Urlaub, wenig Zeit für die Familie, Anspannung, Verspannung, und in Kürze werde sie deshalb ein Entspannungsseminar besuchen und dann ein Feuerlaufseminar, und danach werde sie ihre Erkenntnisse an ihre 30 Mitarbeiter weitergeben. Eine Art Kunst für sich sei dieses Denken, eine Kunst der Wiederherstellung von Lebensfreude, "Gedanken- und Worthygiene", und dazu das Dreigestirn des Pragmatismus: Begeisterung, Mut und Tatkraft. All das also, was Jürgen Höller vermisst, in und an der deutschen Gesellschaft dieser Tage, die das Positive unter Verschwörungsverdacht stelle, dem Nein huldige, den einzelnen Bürger klein und ziellos halte, weil dieser sich klein und ziellos halten lasse und doch groß und erfolgreich werden könne - ein Adler eben.
    Am Rande des schlummernden Schwebheim, tiefes Franken, liegt eine weiße Villa neben dem Wald. Ein bewegliches Kameraauge erfasst den Vorhof, und wenn es klingelt, übernimmt der Mischling Gino das Regiment. Höllers Arbeitszimmer ist noch neu. Seit zwei Jahren wohnt die Familie im Tausendseelendorf Schwebheim, in dem Höller vor 37 Jahren als Arbeitersohn geboren und nach eigener Einschätzung um Anerkennung betrogen wurde. "Wissen Sie", sagt er, "ich bin ein im positiven Sinne Verrückter, weil ich weggerückt bin vom Gewöhnlichen." Höllers "größte Schwäche" kommt herein, bringt Kaffee und Gebäck. Kerstin Höller grüßt herzlich. Das Essen, flüstert sie ihrem Gatten bei einer Umarmung ins Ohr, stehe unten in der Küche. Die Höllers küssen sich, die Tür klappt leise. "Ich empfehle nicht, dies oder das zu tun, ich will unabhängige, erfolgreiche Menschen." - Erfolg ist ja nun eine dehnbare Hülse ... - "... für mich ist Erfolg ganzheitliches Glück, in allen Lebensbereichen." - Ist Glück also Erfolg? - "Wir müssen einfach begreifen, dass wir heute lebenslang zu lernen haben, und man muss den Leuten Mut machen, muss ihnen sagen: Du schaffst es, du musst nur an dich glauben!" Höllers bestes Beispiel ist Höller. Ob vor Zehntausenden in den Hallen der Republik oder in der Gelassenheit privathäuslicher Intimität: Wenn er spricht, spricht er immer das Gleiche und spricht er über sich. Erfolg ist allen möglich, weil er ihm möglich war. Misserfolg muss nicht sein, weil er aufgestanden ist. Jedes Huhn könne wieder zum Adler werden, sagt Höller, das sei seine Botschaft. Strebt jeder unbedingt nach oben, nur weil Höller nach oben strebte, seit er mit sieben beschloss, so groß zu werden, so wie sein Vorbild Arnold Schwarzenegger, der Grazer Bub? In Schwebheim damals, im Sportunterricht, Fußball, Handball, wer ist da immer übrig geblieben, als die Mannschaften sich formierten? "Der Klassendicke und der kleine Jürgen." Die hat niemand gewählt. Die wollte man nicht. Höller lacht. Es bleibt ein professionelles, ein trockenes Lachen. Heute kämen die Sportasse zu ihm, Welt- und Europameister, Berühmtheiten, und er spricht vom Christoph, der gerade vorher angerufen hätte, und er meint den zurückgekehrten Daum, Fußballtrainer ehedem. Höller trinkt seine Tasse Kaffee, lehnt sich zurück, nestelt am roten Poloshirt. Ein Fax kommt. Der Jürgen Höller, sagt Jürgen Höller, sei heute Deutschlands, vielleicht Europas erfolgreichster Motivationstrainer. Motivieren kann er nicht. Will er auch nicht. Motivieren könne sich jeder nur selbst. Menschen, die ihn aufsuchen, haben Erfolg. Aber sie wollen mehr. Sie wollen die letzten zwei Prozent. "Sehen Sie, ich will, dass sich die Menschen ein wenig überschätzen, denn wer sich nicht überschätzt, kommt nicht aus der Komfortzone heraus." Pessimisten, Nörgler, Skeptiker, Miesmacher, Grübler - alle diese mag er nicht. Von Zielen, von Visionen spricht er, und vom schmalen Grat zur Halluzination. "Die meisten Menschen erkennen die Barrieren zwischen ihrem Istzustand und dem Erfolg nicht, und ich biete ihnen einfach Strategieänderungen an." - Manche, hört man, hätten nach seinen Seminaren Allmachtsfantasien ... - "Was glauben Sie: Ich mache mir aus meiner Ethik als bekennender Christ heraus jeden Tag Gedanken, wie ich es schaffe, dass die Leute eben nicht übertreiben, dass ich sie so erreiche, dass sie sich selbst aus dem Sumpf ziehen können." So hat er es getan, Tag für Tag, Jahr für Jahr, und dabei ist jene Vision gereift, die er weitergeben, mit der er Erste Lebenshilfe leisten will: "Erst mal muss ich über den Hügel da laufen und sehen, was dahinter ist. Denn das, was dahinter ist, will ich erobern, wie es die amerikanischen Siedler auf dem Weg nach Westen getan haben." Keine Wolke über Schwebheim, Franken. Eine blendend starke Frühlingssonne. In der Garage ein roter Ferrari. "Viel Erfolg!", sagt Höller, winkt und schließt die Haustür.
    Congress Centrum Hamburg, vor Saal 2, Kaffeepause. Man redet und lacht und ist bereits gut drauf. Manche wippen an Stehtischen in einem fort, andere sind noch ergriffen. Dieser Höller habe Power, meine Güte, sagen sie, schauen sich erfreut an. Die Damen und Herren vom Pharmavertrieb etwa, eingerahmt von zwei Lehrerinnen und dem Mann aus dem Stromkonzern, verweisen darauf, wie das positive Denken ihren Arbeitsalltag verändert habe, wie das öde, eingefahrene, funktionale Dasein lebendig geworden sei, freier, glücklicher, gelungener. Natürlich, das Negative, sagen sie, das gehöre wohl dazu, aber nun ziehe es sofort das Positive nach sich - wie man in den Wald reinschreie, so komme es ja zurück. Auch heute, sagen sie zum Schluss, werde man den Schwung mitnehmen, und man freue sich auf die nächsten Stunden, ja, schon jetzt habe sich der Tag gelohnt. In Saal 2: ein Schrei.
    Noch nie gab es aus kulturwissenschaftlicher Sicht so viele Brüche wie im 20. Jahrhundert: gebrochene Biografien, gebrochene Linearitäten, gebrochene Träume. Zerstörte Utopien, zerstörtes Glück. Die Sehnsucht nach dem Paradies in der "reflexiven", ihre eigenen Grundlagen bedenkenden Moderne könnte also, massenpsychologisch gesprochen, die Sehnsucht des haltlosen Individuums nach Teilnahme an einer fantasierten Allmacht sein. Milieus zersplittern, Institutionen bröckeln, Partnerschaften wechseln, Familien zerbrechen. Es gibt kein Über mehr und kein Zurück, nur noch das Fort. Der aus sozialen Normen befreite Einzelne lebt in spiritueller Obdachlosigkeit, das allgemeine Lebenstempo steigt, Informationen bestürmen ungefiltert den Geist und Impulse ungebremst die Sinne. Flexibilität ist von der Verheißung zum Diktat geworden, Erfolg zum Schlüsselbegriff einer Epoche. Das einst verbürgte lebenslange Recht auf denselben Arbeitsplatz existiert nicht mehr; der Einzelne ist heute ein Unternehmer seiner selbst mit der Chance und Last zum eigenverantwortlichen Einsatz seiner Ich-Aktie. Sucht er deshalb Hilfe bei Erfolgstrainern, weil diese neue Freiheit ein Fluch ist?
    Er oder sie ist vielleicht Finanzdienstleister oder Außendienstverkäufer, Makler oder Berater. Sie stehen unter Erfolgsdruck. Sie leben mit ständiger Konkurrenz, bangen um den Arbeitsplatz und definieren sich größtenteils über Leistung, die über ihr Selbstwertgefühl bestimmt. Job bestimmt Haben, Haben Sein. Und wenn die Leistung nicht mehr stimmt? Wenn der Chef mehr verlangt, und nächstes Jahr noch mehr, und wenn er die Kollegen lobt und die ihren Umsatz unablässig steigern, ein, zwei Prozent nur, und Erfolg ohnehin das oberste Lebensprinzip im entfesselten Wettbewerb ist? Dann werden sie ihre Leistung zu steigern suchen. Aber wie? Sie sind physisch am Limit, mit ihren Kindern verbringen sie die statistischen zehn Minuten am Tag, Glücksgefühle kennen sie kaum noch. Natürlich, sie könnten sich noch mal ins Zeug legen, sich fortbilden, neue Grundlagen aneignen. Das kostet vor allem Geduld und Zeit. Oder sie könnten ein Motivationsseminar besuchen, und dann ein anderes und vielleicht noch eins. Das geht schneller. Das machen so viele andere auch. Das ist teuer. Da muss was dran sein. Und dann probieren sie es einfach mal aus, und es bestätigt sie, und es unterhält und gefällt und macht sogar Spaß, und irgendwann beginnen sie diesen Kick zu brauchen.
    Heiner Keupp, Professor für Sozialpsychologie an der Universität München, wendet auf den prototypischen Seminargänger den Begriff der "Patchwork-Identität" an: die Identitätskonstruktion im Eilverfahren, ein zusammengestückeltes Ich, das sich als Person nicht mehr entwickelt, weil das Umfeld es nicht mehr zulässt. Heute, sagt Keupp, herrsche das Primat der Oberflächengestaltung: das inszenierte Event; ein letztlich erlebnisgesättigter Materialismus, dem man sich zu fügen habe. Gewinnen ist gesellschaftlicher Imperativ. Wer nicht gewinnt, versagt. Ist das so? So einfach? Die alteuropäischen Werte wie Tiefe und Seriosität, die fürsorglichen Traditionen der Industriegesellschaft in der postindustriell geöffneten Gesellschaft, Gemeinschaftlichkeit, Solidarität, die soziale Ethik - all das, schwinde zusehends und sei zum Teil schon unwiderruflich passé. Der Einzelne: ein entleertes Selbst. Das spätmoderne Ich: atomisiert, nur noch sich selbst verantwortend. Vielleicht aber hat dieses atomisierte Ich Selbstverantwortung niemals gelernt, vielleicht ist es verunsichert. Versagensangst, Zukunftsangst und Verunsicherung sind von jeher ein idealer Markt für Ideologen und Glückspropheten. Warum sich nicht helfen lassen?
    Jörg Löhr reißt Witze, parodiert Profile, Dialekte, Ausreden, er stottert, persifliert, schauspielert, gibt den Archetyp des Antityps, fordert, fragt "Wer von Ihnen hat ...?", ist spöttisch, selbstironisch, satirisch frech. Alles kurzweilig, charmant, flüssig. Er appelliert an "die Kraft im Unterbewusstsein", zitiert den Kirchenvater Augustinus, fragt "Wie viel Feuer brennt in Ihnen?", ist gerne performativ, will "Feuer unterm Arsch machen" und hält sich also zugleich ein Feuerzeug an den eigenen Hintern. Ein Lacher. Applaus. "Wie viel kommuniziert das durchschnittliche deutsche Ehepaar miteinander?" Schulterzucken. "Vier Minuten." Staunen, Raunen. "Vier Mi-nu-ten!" Tuscheln. "Ist das nicht der Hammer?" Pointe. Fazit: "Wir haben genug Energie für Familie und Beruf." Und dann der ihm so wichtige Satz: "Aber Wachstum ... das findet immer nur außerhalb der Komfortzone statt." Die Komfortzone ist der Hamsterkäfig. Die Glaubenssätze, die Meinungsdogmen. Die Sturheit des Gewohnten. Der Alltag. Dienstag, München, Stadtmitte. Jörg Löhr powert durch den Abend, keine Pause, kein Stillstand, kein Versprecher. Lebenshilfekabarett. Ja, wo Spaß ist, sagt Löhr, sei die meiste Energie, wo Energie, da Erfolg. "Kommen Sie ins Handeln, machen Sie Unsicherheit zur Sicherheit!" Krise als Chance. Ein Lächeln erntet ein Lächeln. "Wir können nicht alles, aber wir können unglaublich viel erreichen." Sie und Sie und Sie, bedeutet er den Kunden gestisch, sind professionelle Problemlöser, "wenn Sie das Problem nicht lösen, dann löst es ein anderer". Viele schreiben mit. "Also schreien Sie nach Problemen!" Die mittleren Manager nicken und schreiben schneller. Jörg Löhr, vorne, lässt seine wasserblauen Augen strahlen.
    Jenem Dreigestirn des Pragmatismus - Begeisterung, Mut und Tatkraft - bescheinigt der Führungstheoretiker Oswald Neuberger, Professor für Psychologie an der Universität Augsburg, allenfalls eine zirkuläre Falle zu sein: "Wenn du keinen Erfolg hast, dann bist du eben selber schuld, weil du es offensichtlich nicht richtig probiert hast. Der Trainer aber bleibt unfehlbar." Das Problem des Versagens werde individualisiert, Misserfolg personalisiert, das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem von Schuld freigesprochen. Der Einzelne werde gezwungen, seine Biografie fortwährend neu zu gestalten und sich stets aufs Neue zu erfinden, während zur gleichen Zeit die stützenden Soziostrukturen wegbrächen. Das, sagt Neuberger, sei graumsam für viele, die nie und nirgendwo gelernt hätten, ins wilde Wagnis des unberechenbaren Fortschritts hinauszugehen, die halt- und orientierungslos seien, verschreckt und verwirrt von der großen neuen Freiheit eines voluntaristischen Lebens mit seinem ständigen Zwang, sich zu entscheiden. Eine bedrohliche, hemmende Freiheit. Die Schattenseite der "Multioptionsgesellschaft". Die Last der Möglichkeiten. Und nun könnte genau jener Moment sein, in dem sich der Prototyp der Spätmoderne als Pilger auf die Pfade des Erlösers begibt, in Saal 2 oder 3 oder 4. Früher waren es Heilige und Prediger, heute sind es Ersatzheilige und Erfolgsprediger.

Sozialdarwinistischer Machbarkeitswahn

400 Kunden jedenfalls, so darf man schließen, sind von Jörg Löhrs Motivationsperformance beeindruckt bis begeistert, am Dienstagabend, München, Stadtmitte. Für jeden war es ein voller Erfolg: Versicherungskaufleute, Steuerberater, Computerexperten, Bankkaufleute, Consulting- und Management-Service-Vertreter, Siemens, Bosch, Deutsche Bank, BMW, Allfinanz, Deutsche Post, Vorsitzende, Geschäftsführer, Inhaber, Direktoren, Chefredakteure, Marketingreferenten. Auf der Feedback-Liste erhält Jörg Löhr von allen ein "sehr gut", nur einer war nicht ganz zufrieden. Die "vielen praktischen Beispiele", die "fesselnde Darbietung", die "tolle persönliche Ausstrahlung", das "Know-how", so etwas schätzen die Führungskräfte. Und was werden sie sofort umsetzen? Die "Begeisterung behalten", "Ziele formulieren", "innerhalb der 72-Stunden-Regel handeln", "positiver denken", "Körperhaltung verbessern". Raus aus der Komfortzone. "Meine Stärke", sagt Jörg Löhr später, "ist meine Authentizität." Die Akademie für Führungskräfte in Leonberg, die ihn deshalb zweimal zum Trainer des Jahres erkoren hat, bescheinigt Löhr mit den Worten ihres Präsidenten noch dazu den "höchsten Qualitätsstandard" in der Trainerszene. "Woher", fährt der Akademie-Präsident sogleich fragend fort, "soll eine in der Schule als Egomane erzogene Führungskraft Teamarbeit lernen?", und antwortet selbst: "Soziale Intelligenz wird in der deutschen Ausbildung doch bestraft statt gefördert." Jährlich testet die Führungsakademie etwa 30 Trainer nach geheimen 40 Kriterien, um die kompetenten von den inkompetenten zu scheiden. Hat Jörg Löhr also die sozialen Defizite der Gesellschaft am besten erkannt? Kann er Ärzte, Lehrer, Direktoren wirklich zu langfristigen Verhaltensänderungen bringen, zu Selbstverantwortung in Teamwork? "Immer mehr Menschen kümmern sich heute um die Frage: Was kann ich machen, um mein Potenzial besser auszuschöpfen?", sagt Löhr, also sei es doch legitim, sich Trainer zu holen, um eine Antwort zu bekommen. Die Ausbildungsleiter jener Firmen, die regelmäßig mit den Erfolgstrainern zusammenarbeiten, sprechen vom "Katalysatoreffekt", von "Initialzündung" und "Eigendynamik". Dröge Referentenreferate seien out. Der hoch motivierte Mitarbeiter sei der Schlüssel zum Erfolg. Dafür müsse man an den Puls der Zeit. Also bucht man den Trainer von außen. Warum überhaupt ein Trainer? Weil die neue Unternehmenskultur den neuen, den wandlungsfähigen Menschen braucht, das autonome Selbst mit der Fähigkeit zur sozialen Kompetenz. Punktum. Muss so etwas trainiert werden? Ist das verloren gegangen? Können deutsche Führungskräfte nicht führen? Sind sie soziale Analphabeten?
    In einem kleinen Büro nahe der Isar - im Schaufenster kapitalismus- und sektenkritische Titel - sitzt ein Mann mit langen hellblonden Haaren und nennt die Ideen der Motivationstrainer "psycho- und sozialdarwinistischen Machbarkeitswahn". Der Mann heißt Colin Goldner, ist seit 1995 Leiter des Forums Kritische Psychologie in München und diagnostiziert "Denk- und Wahrnehmungsdefizite" zunehmend bei Leuten, die den "trivialisierten Hypnosuggestionen" und "pseudodialektischen Heilsversprechen" tingelnder "Drittklassgurus" auf den Leim gingen. Was für ein Vorteil es denn bitte schön sei, ein Adler zu sein, fragt Goldner, ein Raubvogel, der andere Vögel auffrisst? Und ist nicht gerade der Adler selbst vom Aussterben bedroht? Zwei Dinge charakterisieren Goldner zufolge jeden so genannten "Motivationstag": die überautoritäre Gängelung und Konditionierung des Publikums erstens und zweitens das teuer bezahlte Angebot, in frühkindliche Entwicklungsphasen zurückfallen zu dürfen. Diese "Chance zur Totalregression" spreche die Sehnsucht der beruflichen Einzelkämpfer nach der Flucht ins Spielerische, um nicht zu sagen Infantile an. Motivationstrainer schwämmen im abgestandenen Fahrwasser der New-Age-Esoterik, sagt Goldner, wo der "verquast-reaktionäre Firlefanz von Rajneesh oder Scientology" noch eine Rolle spiele. Höller, Löhr und Co., meint Goldner, seien bloß "nützliche Handlanger" kühl kalkulierender Firmenchefs, die stromlinienförmige Mitarbeiter wünschten und deren ebendadurch lahm gelegte Kreativität anzuzapfen suchten. Ein Prinzip der puritanischen Arbeitsethik im Zeitalter der Globalisierung. Ein Zwang zum motivierten Selbst, der den Anspruch eliminiere, die Arbeitsbedingungen mitzubestimmen.
    Drei Wochen nach dem "Termin mit deinem Schicksal" hat der Bereichsdirektor Hamburg und Umgebung des Deutschen Herold mit jenen etwa 100 seiner 660 Geschäftspartner gesprochen, die sein Unternehmen zu Best of Höller eingeladen hatte: Bankdirektoren, Versicherungs- und Finanzmakler. Die Karten hatten zwischen 99 und 500 Mark pro Kopf gekostet. Ist etwas geblieben nach dem Samstag in Saal 2, als die Energie von vorn nach hinten und von hinten nach vorn zu fließen schien, als sie sich umsetzte in Euphorie und Fröhlichkeit? Von "vorbehaltlos positiven Rückmeldungen" berichtet Karl-Heinz Döring erst mal. Viele seien begeistert gewesen und würden seither an sich arbeiten, sie planten, den Tag aktiv anzugehen, die Lethargie des Alltags zu bekämpfen, Ziele zu formulieren, und zwar schriftlich, wie Höller es forderte. Die Konkurrenz, sagt der Bereichsdirektor, sei hart, der Markt gnadenlos und eine Dienstleistung im Grundsatz unsinnlich: Lassen sich so vielleicht begeisternde Verkaufsstrategien entwickeln oder gesteigerte Umsätze? Eben, sagt Döring, jetzt liege es an jedem selbst, mehr aus sich zu machen, jetzt sei jeder seines eigenen Glückes Schmied. Neue Aufgaben fordern, heißt das. Neue Probleme. Neue Ziele. Neue Chancen. Und in der Firma: ein neues "Wirgefühl".
    Bleibt wirklich etwas nach einem Samstag in Saal 2, Hamburg, nach einem Dienstag, München Stadtmitte, nach vielen Stunden geliehener Lebensenergie? Nach Pusch, Kick-off, geborgter Euphorie? Wird sich das Leben ändern, das Glück herbeifliegen? Oder wird das Fantastische von der Realität vernichtet, und werden die Adler wieder zu Hühnern im großen, mobilen Stall, der sich Leben nennt und aus dem es kein Entkommen gibt? Warum also, fragt Günter Scheich, ziehen, pilgern, strömen Massen von Deutschen auf "Motivationstage"? Und was sagt dies über soziale Reife, kulturelle Kompetenz und den möglichen Hang zur Massenhysterie? Scheich ist Psychotherapeut in Oelde im Münsterland, hat eine grundsätzlich andere Lebensauffassung als Jörg Löhr und Jürgen Höller und ist zu keinerlei Zugeständnis an das positive Denken bereit. "Positives Denken macht krank", sagt er, und für diesen Satz, der auch Titel seines Buches ist, würde Jürgen Höller ihn, sozusagen, am liebsten einsperren lassen. In einen Hühnerstall vermutlich. Günter Scheich, der mühsam und kleinteilig mit verletzten Seelen arbeitet, sieht in Motivations- und Erfolgstrainern gefährliche Scharlatane, weil sie auf unverantwortliche Weise die Psyche der Menschen manipulierten. Beweise liefern ihm experimentelle Studien aus der Wahrnehmungs- und Emotionspsychologie, und bald sollen Experimental- und Kontrollgruppen zusammengestellt und empirische Langzeitstudien zum fatalen Einfluss des positiven Denkens begonnen werden. Hundertfach haben ihm verzweifelte Angehörige geschrieben: von plötzlich unzugänglichen Töchtern, erfolgshysterischen Söhnen, euphorisierten Gatten, von Arbeitnehmern, die kündigten, weil sie sich für Adler hielten, und doch wieder im Hühnerstall endeten, von Angestellten, die unter ihren Chefs litten, weil diese unzumutbare Positivdenker waren und mit klatschenden Händen ihre Untergebenen tyrannisierten, auf Seminare schickten, dauernd zu Terminen mit dem Schicksal. "Unsere reiche Gesellschaft hat massenhaft unreife Menschen", sagt Scheich und meint jene Systemmenschen mit aufgepumpter Selbstsicherheit, die ihr Leben den Gesetzen des "Funktionalitätsprinzips" unterwerfen: cool, schön, reich, erfolgreich. Der pure Optimismus. Diktate chronischer Fröhlichkeit. "Für die Psychohygiene ist das sicher ganz verheerend: Wut, Ärger, Aggression, Zweifel sind sehr wichtig für die Lebensorientierung einerseits und die psychische Gesundheit andererseits." Menschen, die zu Erfolgsseminaren gingen und sich durch positives Denken gleichschalten ließen, behauptet Günter Scheich, seien labil und brauchten Halt. Viele wüssten nicht mehr, wer sie wirklich seien, kämen euphorisch nach Hause, verspürten den Impuls, innerhalb einer Viertelstunde ein ganzes Leben umzukrempeln und schritten zur Tat. "Diese Leute denken, sie könnten mit geringstem Aufwand alles erreichen, wenn sie nur ihr Denken umstellen. Absoluter Unsinn, und gefährlich dazu." Günter Scheich also steht kopfschüttelnd vor der Tatsache, dass sich Abertausende deutsche Bürger mit Vernunft, Verstand und einträglichem Wohlstand von Jürgen Höller und Kollegen den Weg zum Paradies auf Erden ausschildern lassen. Ein Paradies aus gedroschenen Binsen?
    Die Sehnsucht nach dem erlösenden Wort des Erfolgsverkünders, nach dem Glücksvorführer hat nach Ansicht von Psychologen, Hirnforschern und Kulturwissenschaftlern mit intellektueller Potenz gar nichts zu tun. Ichstärke ist keine Frage der Intelligenz; vielmehr sucht die im Berufsalltag beanspruchte Ratio Ausgleich im seelischen Anderswo. Je simpler die Botschaft, desto attraktiver der Fluchtweg. "Die Adressaten solcher Beeinflussungsversuche", meint der Führungstheoretiker Oswald Neuberger, "haben irrationale Ängste und Wünsche, die ein Motivationsguru zu lösen und erfüllen verspricht." Du kannst es! Auch du hast Erfolg! Du bist gut! Du bist besser als dein Konkurrent! Und für einige Stunden erliege man der massenpsychologisch berechneten Suggestion individueller Überlegenheit. Neuberger nennt das "kollektive Erregung". Und Jürgen Höller sei deshalb durchaus begabt. Ein Aufreißer. Mehr nicht.

1100 Adler jubeln begeistert

Jürgen Höller redet ohne Pause. Seine Stimme ist weich. Er spricht frei, in einem fränkischen Fluss. Dunkler Anzug, dunkle Weste, weißes Hemd. Er bewegt sich geschmeidig, läuft im Radius von zwei Metern mit lockeren Schritten. Seine Sprache ist linear, ohne Fallen, Kniffe, Fremdwörter. Der Satzbau ist schlicht und imperativisch: Subjekt, Prädikat, Ausrufezeichen. Jeder soll ihn verstehen. "Ihr müsst handeln! Tut was!" Er sagt: "Ich sage nicht, dass das richtig ist, was ich sage." Er setzt sich auf Barhocker an der Bühnenrampe. "Jedes Ziel ist immer außerhalb deiner Komfortzone." Er will Distanz verringern und doch beibehalten. "Bitte erweitere deine Komfortzone!" Der Saal verdunkelt. Spot auf den Coach. "Den Sinn des Lebens", Stille, "muss jeder selbst finden." Im Hintergrund: Meditationsmusik. "Ich war mit 21 fast pleite. Jetzt bin ich Multimillionär." Seine Arme gehen zur Decke. "Zeige Schwäche und Zweifel - und du wirst niemals erfolgreich sein!" Da stürmt Jennifer Lopez mit Lets get loud und tausend Watt in Saal 2. Jürgen Höller schreit: "Hey! Hey! Hey!" Rote und blaue Laserstrahlen zucken. Auf einer Videoleinwand springen Tiger in Zeitlupe, und Surfer wirbeln durch die Luft, dazwischen Höller live, in Sequenzen zerlegt. Dann donnert Move your body herein, und sie tanzen, twisten und in die Luft stochern Zeigefinger stakkatohaft, schnelle Schläge, harter Bass. Höller in Ekstase, dann klippenspringende Skifahrer im Tiefschnee. Und irgendwann, als der Termin mit dem Schicksal zu Ende geht, fliegen zu Here comes the summer sun Luftballons durch den Saal 2 des Hamburger Congress Centrums, und die strahlenden, sich reckenden Makler, Pharmavertriebler und Unternehmensberater tippen sich Bälle und Ballons zu und schicken sie fort in die Finsternis des Raums. "Das Geheimnis des Erfolgs", sagt Jürgen Höller dabei, "ist ganz simpel: Denk immer an dein Ziel - glaub an den Erfolg - träume davon, Tag und Nacht." Es ist sechzehn Uhr als "Mister Motivation" die Leben verändern will. Nun weinen die Töne einer anrührenden Musik im Hintergrund, und er wandelt im Lichtkegel über die Bühne, und 1100 Menschen sind plötzlich still, schauen gebannt, andächtig, und dann, bevor er die Arme in die Luft hält und den Kopf nach hinten legt, bevor er gehen wird und sie mit ihrem Leben wieder allein lässt, sagt er es: "Gib NIE, NIE, NIE ...", er bleibt stehen, vorne, am Rand der Bühne, wo noch immer der Graben zur ersten Reihe ist, seine Hand beschwört das Wort, "... gib NIEMALS auf!" 1100 Adler jubeln. Er verneigt sich, winkt, saugt die explodierende Begeisterung in sich auf, und es will scheinen, als sei dies das Finale einer großen Oper, als seien es Sekunden nach der letzten Arie des Heldentenors, der davongetragen wird vom rauschenden Bravo seiner zahllos zahlenden Verehrer.


Quelle: DIE ZEIT Nr. 25, 13. Juni 2001, S. 13-16. (DOSSIER)


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Der Inhalt dieser Seite wurde am 31.08.2024 um 13.38 Uhr aktualisiert.
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