Pressespiegel
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Onkel Noam aus dem Netz
Von Jörg Lau.
Am 15. April 1992 hat die Pressestelle des renommierten Massachusetts Institute of Technology, kurz MIT, eine frohe Botschaft zu verkünden: "Chomsky ist der Zitat-Champion." Die Rede ist von dem Sprachwissenschaftler Noam Chomsky, dem Star der linguistischen Fakultät des bei Boston gelegenen Elitecampus: Professor Chomsky sei die "meistzitierte lebende Person" der letzten zehn Jahre und befinde sich "in der Tat in illustrer Gesellschaft. Die Top Ten der zitierten Quellen im betreffenden Zeitraum waren: Marx, Lenin, Shakespeare, Aristoteles, die Bibel, Plato, Freud, Chomsky, Hegel und Cicero."
Marx und Lenin - und wohl auch Freud - dürften in der Zwischenzeit auf hintere Plätze abgerutscht sein. Noam Chomsky aber, unterdessen 72 Jahre alt, ist heute stärker präsent als je zuvor. Es ist allerdings nicht mehr so sehr der von ihm begründete Strang der "strukturalen Linguistik", der seinen Ruhm ausmacht, sondern sein politischer Aktivismus. Chomsky ist ein Vordenker jenes bunten Patchworks von Globalisierungsgegnern, das sich selbst gerne das "Volk von Seattle" nennt und zum Schrecken aller Gipfeltreffen geworden ist.
In den sechziger und siebziger Jahren wurden Generationen von Germanistikstudenten trainiert, nach den Regeln von Chomskys "Transformationsgrammatik" aus scheinbar einfachen Sätzen herrlich komplizierte Stammbäumchen abzuleiten, um damit einer geheimnisvollen Tiefenstruktur aller natürlichen Sprachen nahe zu rücken. Das war eine dieser rationalistischen Utopien der im Rückblick so erstaunlich optimistischen Nachkriegszeit, als man noch hoffte, mithilfe mathematischer Logik, Kybernetik und Linguistik erst die Spaltung von Natur- und Geisteswissenschaften zu überwinden, dann die alteuropäische Metaphysik abschaffen und schließlich an ihrer Stelle eine Art einheitliche allgemeine Steuerungswissenschaft für das technische Zeitalter begründen zu können. Der Name Chomsky stand damals für den Optimismus, dass das Geheimnis der Kreativität des menschlichen Geistes erklärbar sei als Anwendung einer "universalen Grammatik".
Die USA: Ein Schurkenstaat?
Der Optimismus seiner Sprachphilosophie ist nun aber, so scheint es, in scharfen Widerspruch zu dem tiefschwarzen Pessimismus seiner politischen Analysen geraten. Chomsky ist der einzige Intellektuelle von Rang, der für die eigentlich antiintellektuelle Bewegung der Globalisierungsgegner überhaupt eine Rolle spielt. Das Internet ist die technische Voraussetzung für Chomskys Altersruhm. Dort haben seine Anhänger die größten Teile seines politischen Werks zugänglich gemacht. Das führende elektronische Theorieorgan der radikalen Linken in den USA, Z Magazine, pflegt ein Noam Chomsky Archive mit Hunderten von Essays, Interviews, Buchexzerpten und Debattenbeiträgen. Zum Verdruss seiner vielen Gegner, die ihn als die größte Nervensäge der Pax Americana betrachten, ist es unabweisbar, dass Noam Chomsky von seinen zahlreichen Lesern wahrhaft und aufrichtig geliebt wird.
Nun gehört es eigentlich nicht zu den Aufgaben eines kritischen Intellektuellen, derartige Liebesgefühle in seinem Publikum zu erwecken. Sie müssten ihm sogar verdächtig erscheinen. Chomsky jedoch liegen solche Skrupel offenbar fern. Seine Vorträge sind gespickt mit leicht zu merkenden Refrains über die Vereinten Staaten als Reich des Bösen. Eine Rede anlässlich des Jubiläums Fünfzig Jahre UN, Weltbank, IMF und Menschenrechtscharta" gipfelte in dem Diktum: "Wir sind ein gewalttätiger, gesetzloser, verbrecherischer Schurkenstaat." Chomskys neuestes Buch ist denn auch dem außenpolitischen Konzept des rogue state gewidmet. Es läuft darauf hinaus, den Begriff als bloße machtpolitische Ideologie der USA zu demaskieren - und diese selbst im Gegenzug als den wahren Schurkenstaat hinzustellen.
Wer Chomsky auf seiner lebenslangen Vortragstournee erlebt oder eines seiner über 30 Bücher zu aktuellen politischen Fragen in die Hand nimmt, kann sicher sein, mit einem griffigen Prophetenwort beschieden zu werden. Die internationale Ordnung, dekretiert er, gehorche "den Bedürfnissen des Kapitals, nicht der Leute". Die so genannte Schuldenkrise der Dritten Welt sei nichts als eine "ideologische Konstruktion des reichen Nordens", um den Süden unter seiner Fuchtel zu halten. IMF und Weltbank sieht er dementsprechend als Instrumente zur globalen Machtergreifung der "neoliberalen Eliten" in den Vorstandsetagen der Investmentbanken und der multinationalen Konzerne. Die Idee der "humanitären Intervention" wurde nach Chomskys Meinung zu dem Zweck erfunden, das Weiterbestehen des militärisch-industriellen Komplexes nach dem Sieg im Kalten Krieg zu legitimieren. Der Kosovo-Krieg schließlich habe allein dem Zweck gedient, den Fortbestand der Nato zu begründen und die Machtübernahme der USA in Europa voranzutreiben.
Wer solche gusseisernen Gewissheiten nicht teilt und gar von der Meinung des großen Chefdissidenten abzuweichen wagt, muss damit rechnen, in die Grube zu den Verworfenen getan zu werden. Chomsky, dessen Biografie den treffenden Titel A life of Dissent trägt, geht unerbittlich gegen jeden vor, der den Dissens mit ihm riskiert. Als wahrer Manichäer kennt er nur Söhne des Lichts oder der Finsternis. Er scheint gar erleichtert zu sein, wenn er wieder einmal einen Kampfgenossen als Speichellecker der Mächtigen entdeckt und abgetan hat. Chomsky setzt sich mit anderen Standpunkten nicht auseinander, sondern beschränkt sich darauf, sie als Funktion böser Hinterabsichten zu entlarven. Václav Havel und Elie Wiesel zum Beispiel, die während des Kosovo-Krieges die Nato-Intervention mit Blick auf die verletzten Menschenrechte rechtfertigen zu können glaubten, wurden von Chomsky schlichtweg als virtuelle "Kriegsverbrecher" denunziert.
Die Kehrseite von Chomskys Status als Popikone des Widerstands ist seine zunehmende Isolierung vom Diskurs der amerikanischen Linken. Das rührt nicht nur daher, dass Chomsky so gut wie jeden, der nicht auf seiner Linie ist, schon als "Faschisten" oder - was in seiner Welt letztlich auf dasselbe hinausläuft - als "Handlanger der totalitären neoliberalen Machtergreifung" beschimpft hat. Es gibt noch ein anderes, schwerer wiegendes Problem mit den jüngeren Interventionen Noam Chomskys: seine Entschlossenheit, unbequeme Fakten nicht zur Kenntnis zu nehmen, wenn sie der Beweisführung schaden oder gar seine Weltsicht gefährden. Sein Enthüllungsbuch über den Kosovo-Krieg und den New Military Humanism, schon 1999 parallel zum Krieg geschrieben, wurde denn auch gerade von ausgewiesenen linken Kritikern der US-Außenpolitik wie Aryeh Neier und Christopher Hitchens zerpflückt. Chomsky stellt darin das Bombardement Serbiens als einen Akt imperialistischer Aggression durch die USA dar. Die lange Vorgeschichte von Vertreibung und Völkermord in Bosnien und anderen Teilen Exjugoslawiens blendet er einfach aus inklusive der bis dahin rund zweihunderttausend Toten, die mehrheitlich auf Milocevics Konto gingen. So will er glaubhaft machen, dass die gefährdeten Menschenrechte der Kosovo-Albaner nur ein Vorwand waren. Es war bitter für seine Freunde, ausgerechnet Noam Chomsky als Verharmloser eines Tyrannen wie Milocevic zu erleben. Dass Chomsky sich diesmal nicht auf die Seite der Opfer gestellt und im Gegenzug die Verbrechen der Serben aus taktischen Gründen weichgezeichnet hatte - dies wurde selbst von den Kriegsgegnern in der amerikanischen Linken mit Bestürzung aufgenommen.
Noam Chomsky ist schließlich nicht irgendein verbohrter Spinner, der sich seinem Altersradikalismus überlässt. Durch sein Engagement gegen den Vietnamkrieg war er einst zum Modell für die Unbestechlichkeit eines Intellektuellen durch die Propagandalügen des State Department geworden. Seine Vorlesungen Ende der sechziger Jahre wurden zu Erweckungserlebnissen für die junge Studentengeneration, die sich mit dem Quietismus ihrer akademischen Lehrer nicht mehr abfinden mochte. Chomsky hatte dabei immer zwischen seinen sprachphilosophischen Ansichten und seinem Aktivismus, seiner Theorie und seinen politischen Ansichten unterschieden - was ihm als besondere intellektuelle Redlichkeit ausgelegt wurde. Unvermeidlicherweise aber erglänzte die Chomskysche Linguistik dennoch in der Aura seiner politischen Progressivität.
Und natürlich gab es da auch Verbindungen: Die Idee einer "universalen Grammatik" ist wohl die stärkste Form von Rationalismus, die nach der linguistischen Wende der Philosophie überhaupt noch denkbar war. Man dachte sich seinerzeit den Zusammenhang zwischen der Chomskyschen Sprachphilosophie und seiner linken, anarcholibertären Politik ungefähr so: Wer den Menschen mit einer so hehren Fähigkeit ausgezeichnet sieht, der muss sich auch dafür einsetzen, dass diese Fähigkeit freies Spiel hat.
Der paranoide Stil in der Politik
Wer Chomskys Weg der letzten Jahre verfolgt, wird allerdings Schwierigkeiten haben, seinen linguistischen Rationalismus mit seiner zunehmend verschwörungstheoretischen politischen Publizistik unter einen Hut zu bringen. Nichts ist in seiner Welt, wie es scheint, alles dient fremden, finsteren Interessen: Die Medien stellen den Konsens für die Politik her, die politischen Institutionen bereiten die Machtergreifung der Konzerne vor.
Man kann mit Blick auf Chomskys letzte Bücher schon von einem "paranoiden Stil" sprechen, wie ihn der Politologe Richard Hofstadter in seinem berühmten Aufsatz The Paranoid Style in American Politics definiert hat: "Das Entscheidende am paranoiden Stil ist nicht, dass seine Vertreter hier und da Verschwörungen in der Geschichte sehen, sondern dass sie eine ,breite' oder ,gigantische' Verschwörung als die treibende Kraft der geschichtlichen Entwicklung sehen. Die Geschichte ist eine Verschwörung, ins Werk gesetzt von dämonischen Kräften mit fast transzendentaler Macht, und zum Sieg über sie taugen nicht die üblichen Methoden des politischen Aushandelns, sondern nur ein letzter Kreuzzug."
Natürlich gibt es tatsächlich mächtige Verschwörungen in der Geschichte. Und wer wollte ernsthaft bestreiten, dass die von Chomsky verdächtigte politische Rhetorik des Humanitären, der Globalisierung und der Flexibilisierung allzu oft wirklich finsteren Interessen dient. Das Problem der Chomskyschen Rede ist nur, dass es in der Welt nichts gibt, das er seinem Weltverschwörungspanorama nicht einverleiben könnte. Es gibt keine unpassenden Entwicklungen, keine realen Widersprüche, keine unerklärlichen Ereignisse. Die "paranoide Mentalität", sagt Hofstadter, "ist viel kohärenter als die Wirklichkeit, denn sie lässt keinen Platz für Fehler, Versagen oder Zweideutigkeiten. Sie ist zwar nicht rational, aber doch intensiv rationalistisch; sie glaubt sich einem Feind gegenüber, der ebenso unfehlbar rational wie absolut böse ist, und sie versucht seiner vermeintlich totalen Macht mit ihrer eigenen Allzuständigkeit zu begegnen - indem sie nichts unerklärt lässt und die ganze Wirklichkeit in einer überwölbenden, konsistenten Theorie erfasst."
Quelle: DIE ZEIT Nr. 31, 26. Juli 2001, S. 29. (FEUILLETON)